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«Die sollte man verklagen!»

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Social Inflation – USA und Haftpflicht

«Wenn wir in den USA wären, dann könntest Du sie jetzt verklagen», ist ein geflügeltes Wort in unseren Breitengraden. Dem zu Grunde liegen kolportierte Geschichten über absurde Gerichtsentscheide zur Haftpflicht in den USA.  

Geschlechtskrankheit im Auto – ein Fall für die Autoversicherung 
Eine Frau aus Missouri wurde von ihrem Partner fahrlässig mit humanen Papillomaviren (HPV) angesteckt. Sie verlangte 9.9 Mio. Dollar Schadenersatz für medizinische Ausgaben sowie für entstandene und künftige psychische und physische Schmerzen, von der Versicherung des Partners. Das Schiedsgericht bezifferte die Summe schliesslich auf 5.2 Mio. Entschädigung, zahlbar von der Versicherung des Mannes. Die Berufung hatte keinen Erfolg, die Autoversicherung Geico wurde zur Kasse gebeten. 

Weitere Geschichten gefällig? Eine Mutter stolperte in einem Supermarkt in Texas über ein kleines Kind und verklagte den Betreiber des Supermarktes erfolgreich auf Schadenersatz. Ach ja, es war ihre kleine Tochter, über die sie gestolpert war. In Delaware wollte eine Kundin eines Restaurants durch das Toilettenfenster flüchten, um die Rechnung nicht bezahlen zu müssen. Da sie dabei stürzte und sich verletzte, klagte sie gegen den Besitzer des Lokals auf Schmerzensgeld, was ihr auch zugesprochen wurde.  

Die rechtlichen Grundlagen 
Im Folgenden beziehe ich mich ausschliesslich auf das US-amerikanische Produkthaftungsrecht. Um Risiken für Unternehmen abzuschätzen, ist es wichtig zu verstehen, wie solche Urteile entstehen können. 

Im Wesentlichen unterscheidet man drei voneinander unabhängige Grundlagen für die Produkthaftung: 

  • Breach of Warranty – Garantieverletzung 
    Damit meint das Gesetz eine Haftung dafür, dass das Produkt bestimmt Eigenschaften besitzt. Dagegen kann geklagt werden, wenn ausdrücklich oder stillschweigend garantierte Eigenschaften vom Produzenten nicht eingehalten wurden. Die Haftung ist verschuldensunabhängig. 

  • Negligence – Fahrlässigkeit 
    Darunter versteht man eine zumindest fahrlässige Verletzung einer Sorgfaltspflicht, ähnlich wie wir sie auch in der Schweiz kennen. Die Haftung ist verschuldensabhängig, die Beweislast liegt vollumfänglich beim Kläger. 

  • Strict Liability in Tort – Gefährdungshaftung aus unerlaubter Handlung 
    Die Basis dafür ist ein Schaden, welcher von einem Produktfehler verursacht wurde. Sie kann den Produzenten, den Händler und/oder Logistiker verschuldensunabhängig treffen. Wichtig zu wissen, dass es dazu keine gesetzliche Regelung gibt, sondern nur Rechtsprechung. 

Grundsätzlich gilt, dass in einer Produktions- und Vertriebskette jeder haftet, sofern keine abweichenden vertraglichen Regelungen getroffen wurden. Für die Produkthaftung kann also nicht nur der Hersteller, sondern auch der Importeur, der Händler, der Zulieferer oder sogar der Entwickler herangezogen werden.  

Tatsächlich hat der Kläger ein Wahlrecht, wen er verklagen möchte. Dabei kann der Kläger einzelne Unternehmen oder gleich alle in der Wertschöpfungskette vor den Kadi ziehen.  

Wo gehobelt wird, da fallen Späne, weiss der Volksmund. Bereits in der Entwicklung können Fehler unterlaufen. Im Folgenden können bei der Herstellung Fehler eine Haftung auslösen, wenn sie vor der Inverkehrssetzung nicht beseitigt werden. Dazu können auch fehlerhafte und nicht ausreichend kontrollierte Zulieferteile dazu beitragen. Nicht zu vergessen sind auch fehlerhafte Anleitungen zum sicheren Gebrauch, zur Montage oder zur Wartung. Dazu gehören auch unzureichende Produktbeobachtungen, speziell wenn Rückrufaktionen nicht oder nicht rechtzeitig erlassen werden. 

Der grosse Unterschied 
Produktfehler passieren überall auf der Welt. Und der Kläger muss unter anderem nachweisen, dass er einen Schaden erfahren hat und dieser in adäquat kausalem Zusammenhang zum Produktfehler steht. Der grosse Unterschied in den USA ist, dass dort nicht der Richter über den Schadenersatz entscheidet, sondern häufig eine Laien-Jury. Der Richter überwacht nur den geordneten Ablauf des Verfahrens.  

Dies ist nicht neu. Trotzdem zeigt die Entwicklung der letzten 20 Jahre, dass die Urteilssprüche zunehmend höher ausfallen, in den letzten 10 Jahren haben sie sich sogar verdoppelt.  

Für die Entwicklung sind verschiedene Gründe verantwortlich.  
 

  • Publizierte hohe Schuldsprüche werden von spezialisierten Anwälten als Basis für weitere Klagen verwendet. 

  • Die Generation der Millennials, welche zunehmend Einsitz in der Jury nehmen, haben ein anderes Wertesystem, speziell zu sozialer Gerechtigkeit. 

  • Gleichzeitig nimmt das Misstrauen gegenüber grossen und internationalen Unternehmen zu. Eine emotionale Entscheidung erfolgt oft zu Gunsten des Klägers (David gegen Goliath). 

  • «Die haben genug Geld», ist eine salonfähige Beurteilung. 

  • Social Media, TV-Advertising und der leichte Zugang zu entsprechenden Informationen über das Internet motivieren und beeinflussen Kläger und Geschworene gleichermassen.  

Für internationale Unternehmen kommt erschwerend dazu, dass sich der Trend zu hohen und prestigeträchtigen Klagen auch in anderen Ländern, insbesondere in den Commonwealth Staaten, etabliert hat. 

Risiken minimieren 
Der sicherste Weg ist, Fehler zu vermeiden. Ein erster Schritt dazu beginnt bereits in der Entwicklung. Hier muss berücksichtigt werden, dass in den USA von einem niedrigeren Kenntnisstand der Konsumenten auszugehen ist. In diesem Produktionsschritt sind regelmässige und umfassende Sicherheitsaudits zwingend.  

Auch in der Fertigung kann die Qualität durch regelmässige und vor allem auch dokumentierte Kontrollen sichergestellt werden. Im Weiteren ist höchste Sorgfalt bei der Bedienungsanleitung aber auch bei der Werbung geboten. Die Inhalte sollten nicht nur übersetzt, sondern unbedingt lokalisiert werden. 

Aus den Augen, aus dem Sinn ist keine gute Strategie. Auch dann nicht, wenn das Produkt im Verkauf ist, resp. dem Handelspartner übergeben wurde. Der Hersteller hat eine Produktbeobachtungspflicht. Bei sicherheitsrelevanten Defekten muss er sofort reagieren und Warnungen aussprechen oder die Produkte sogar vom Markt zurückrufen.  

Die Haftung verlagern! 
Auch wenn höchste Sorgfalt angewendet und detaillierte Qualitätskontrollen getätigt werden, können Fehler entstehen. Um die Haftung zu verlagern, kann eine Produkthaftversicherung abgeschlossen werden. Des Weiteren können Vereinbarungen mit Lieferanten und Kunden getroffen werden, wie zum Beispiel Haftungsfreistellung oder Qualitätssicherungsvereinbarungen.  

Zu Bedenken gilt, dass die Prämien für solche Versicherungen, insbesondere, wenn man die Produkte auf dem amerikanischen Markt anbietet, aufgrund der möglichen hohen Schadenersatzzahlungen sehr teuer zu stehen kommen können und so im schlechtesten Fall das USA-Geschäft sogar uninteressant machen.  

Übrigens kann es durchaus vorkommen, dass das Unternehmen als Sieger aus dem Prozess hervorgeht, und trotzdem verliert. Denn in den USA muss in der Regel der Verlierer nicht die gesamten Kosten des Rechtsstreites tragen, so dass die Abwehr einer unbegründeten Klage trotzdem eine finanzielle Belastung für ein Unternehmen bedeuten kann.